Auf Antrag der Unionsfraktionen haben wir gestern im Bundestag ausführlich über Verbraucherschutz diskutiert. Dabei haben wir u.a. die Bedeutung von analogen Dienstleistungen im Zeitalter von Digitalisierung diskutiert. Zu diesem Thema habe ich kürzlich auch mit Tabea Rößner ein Positionspapier für die neue EU-Verbraucheragenda veröffentlicht. Hier seht ihr die ganze Rede:
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In den letzten Monaten ist die politische Nutzung von TikTok verstärkt in die öffentliche Debatte geraten. Für T-Online habe ich dazu in einem Gastbeitrag schärfere Regeln gefordert. Den Beitrag lest ihr hier oder auf T-Online. Das Thema wurde auch in weiteren Medien aufgegriffen: (Hasepost, Oldenburger Onlinezeitung)
Der Beitrag in voller Länge:
„Das macht mir große Sorgen“
Jugendliche kommen heute oft über TikTok zum ersten Mal mit Politik in Berührung. Das ist ein Problem. Denn die Plattform verkürzt und polarisiert. Höchste Zeit für Regeln, fordert Grünen-Politikerin Linda Heitmann im Gastbeitrag.
„Im richtigen Leben würden Sie Ihre Kinder schützen“ – mit diesem Satz wurden Eltern in einer Fernsehwerbung vor 15 Jahren auf die Gefahren von Kriminalität im Internet für Kinder und Jugendliche aufmerksam gemacht.
Und heute? Junge Menschen verbringen laut Statistik etwa 200 Minuten am Tag am Smartphone, nutzen soziale Medien, schauen lustige Videos an oder informieren sich. Längst häufen sich Berichte über die Schattenseiten – gerade auch in Bezug auf politische Bildung und Polarisierung.
Als Mutter und vor allem Demokratin macht mir dies große Sorgen. Ich bin nicht alt, aber ein politisches Kind aus dem vorigen Jahrhundert: Ich habe mich als Teenagerin in den 90ern damit auseinandergesetzt, welche Musik mir gefällt, was mir bei Freundschaften wichtig ist, wie mein individueller Kleidungsstil aussieht und eben auch, wo ich politisch stehe, wofür ich es unumgänglich finde, mich einzusetzen.
„Damals“ gab es noch keine sozialen Medien, keine Smartphones, auf dem Computer funktionierte mit Glück das Tetris-Spiel. Es gab die Schule, den Freundeskreis, das Elternhaus und das Fernsehen, die unsere Politisierung beeinflussten. Für das Fernsehen und in der Schule gelten klare Regeln, wie Parteien hier Einfluss nehmen dürfen – was ich heute sehr zu schätzen weiß!
Der Erstkontakt mit „der Politik“ findet für Kinder und Jugendliche heute oft auf TikTok statt – ohne Einordnung, ohne Quellenbeleg, aber mit viel Skandalisierung und Populismus. Denn ausgerechnet für die Medien, die Jugendliche täglich nutzen, gelten die Regeln, wie es sie in Schule oder Fernsehen gibt, bislang nicht. Und das ist ein Problem!
Ich finde: Wir als Politikerinnen und Politiker müssen speziell TikTok deshalb Regeln geben und Grenzen setzen, anstatt alle halbe Jahre auf jeder neuen Plattform einen Account mit immer stärker verkürzten Darstellungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Regeln für TikTok – warum?
Aber warum braucht es gerade für TikTok dringend Regeln? Rund die Hälfte aller 12- bis 19-Jährigen in Deutschland geben an, auf TikTok aktiv zu sein. Laut offiziellen Nutzungsregeln kann man sich erst ab 13 Jahren ein Profil anlegen. Doch niemand kontrolliert, ob die Altersangabe korrekt ist. So tummeln sich auch Zehnjährige auf der Plattform, werden zunehmend durch die schnell geschnittenen Videos gebunden.
Auf der „For You“-Seite werden ihnen gezielt Videos von durchschnittlich 32 Sekunden Länge zugespielt, die scheinbar ihren Interessen entsprechen. Klingt harmlos? Ist es nicht! Die Plattform arbeitet von Beginn an mit Algorithmen, die Polarisierendes verstärken: Schaut eine Person einmal ein Video über die Leugnung des Klimawandels, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie solche Videos immer wieder angezeigt bekommt.
An den Schulen gilt bis heute der Beutelsbacher Konsens. Dieser regelt, dass Schülerinnen und Schüler durch Lehrkräfte nicht einseitig parteipolitisch beeinflusst werden dürfen. Ziel von Schule ist es zudem stets, Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und Quellen auf Seriosität überprüfen zu lernen.
Auch für Wahlwerbung im öffentlichen Raum und im Fernsehen gelten klare Regeln: Im TV darf sie nur in bestimmten Zeiträumen ausgestrahlt werden und muss klar als Parteienwerbung gekennzeichnet sein.
Auf TikTok werden parteipolitische Inhalte abseits von gezielter Werbung verbreitet, insbesondere emotionalisierende. Vor den Algorithmen und ihren Gefahren warnen Forschende bereits länger: Wir alle und gerade auch junge Menschen sind beeinflussbar. Und wie soll eine Doppelstunde Politikunterricht pro Woche die Effekte mehrstündiger Dauerberieselung mit reißerischen Videos ausgleichen?
Politikerinnen und Politiker brauchen Zeit, um ihre Positionen auch mal ausführlicher zu begründen, wenn sie komplexer werden. Doch diese gibt es im Internet heute bei vielen parteipolitischen Inhalten nicht mehr. Mit simplen und häufig falschen Fakten werden in Videos oder auf 280 Zeichen einfachste Zusammenhänge konstruiert und als Lösungsvorschläge für komplexe Probleme dargestellt.
Regulierung – nur wie?
Doch wie genau könnte das Regulieren im Netz funktionieren? Oft habe ich das Gefühl, im Netz befinden wir uns im Dauerwahlkampf! Das ist ein Problem, weil es mittlerweile auch damit einhergeht, dass das Aushandeln von politischen Kompromissen in Koalitionen stets medial zum riesigen Streit stilisiert wird. Das befördert Politikverdrossenheit, statt den demokratischen Wert von Kompromissfindung zu betonen.
Erfreulicherweise sind mit zwei neuen EU-Gesetzen kürzlich Regeln für große Online-Plattformen bezüglich Accounts von Parteien und Abgeordneten beschlossen worden. Doch diese gelten insbesondere für bezahlte politische Werbung, wie TikTok sie gar nicht ausspielt. Welche Regeln gelten hier also jenseits von kommerziellen Anzeigen?
Da die parteipolitischen Inhalte auf TikTok häufig von Accounts politischer Akteure kommen, braucht es auch für diese klare Identifikationsregeln – bis hin zur Kommunalpolitik. Und ein konsequentes Löschen von Accounts, die die Regeln nicht einhalten.
Mehr als die Hälfte der jungen Menschen nutzt die Plattform, um sich über politische und gesellschaftliche Themen zu informieren. Klare Regeln für das Einblenden von Inhalten und Accounts für Altersgruppen wären eine gute Möglichkeit. Wir haben als Politik den Jugendschutz zum Auftrag. Deshalb lasst uns dort anfangen: Strenge Altersverifikation bei der TikTok-Registrierung und das konsequente Ausblenden parteipolitischer Inhalte für Menschen unter 16 Jahren erscheinen mir sinnvoll und klar.
Nur gemeinsam sind wir durchsetzungsstark
Europaweit gilt: Bei allen Regeln, die wir setzen und durchsetzen wollen, müssen wir an einem Strang ziehen. Denn nur als Union sind wir auch durchsetzungsstark gegenüber großen Plattformen wie TikTok, die oft erst dann reagieren, wenn eine Klage mit teuren Strafzahlungen droht.
Ferda Ataman, die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, brachte den derzeitigen Status quo kürzlich jedoch auf den Punkt: „Solange Plattformen sich nicht an simpelste Regeln halten, um junge Menschen zu schützen, sind sie keine Plattform für den Staat.“
Tatsächlich gerate ich als Abgeordnete, die ehrlich und ausgewogen über ihre politische Arbeit informieren will, in den Konflikt. Solange es nicht mal durchsetzbare klare Regeln gibt, werde ich TikTok nicht nutzen.
Grün, digital und fair – so soll die kommende EU-Verbraucheragenda aussehen. Am 12. März wurde unser Thesenpapier auf einer hybriden Abendveranstaltung im Europäischen Haus der EU-Kommission am Pariser Platz vorgestellt und mit hochkarätigen Gästen aus der verbraucherpolitischen Szene diskutiert.
Zu Beginn begrüßte die Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann die rund 80 Gäste vor Ort und warf einen Blick zurück zur Consumer Bill of Rights, die bereits der amerikanische Präsident in den sechziger Jahren vor dem US-Kongress erlassen hatte um grundlegende Verbraucher*innenrechte zu proklamieren. Mit der in 2023 verabschiedeten Verbandsklage für Verbraucher*innen hat die Grüne Fraktion mit der Ampel einen großen Erfolg errungen.
Im Anschluss gab unsere Grüne Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke eine politische Einordnung. Aus ihrer Sicht sind drei Themenkomplexe zentral für die künftige EU-Verbraucherpolitik. Das sind Verbraucherrechte im digitalen Raum, umweltpolitische Aspekte der Verbraucherpolitik und soziale Aspekte der Verbraucherpolitik.
Keynote des Abends war Ferda Atamann, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, die einen Impuls zu „Verbraucherschutz ist auch Diskriminierungsschutz“ gab. Darin zog sie Vergleiche zwischen den beiden Politikfeldern. Im Bereich der Rechtsdurchsetzung könne die Antidiskriminierung noch viel von der Verbraucherpolitik lernen. Wichtig sei aber, dass Verbraucherpolitik, Antidiskriminierung immer mitdenke und auch in Verbraucherrecht verankere.
Keynote von Ferda AtamanLinda Heitmann, Tabea Rößner, Doreen Denstädt, Ramona Pop
Aus Brüssel sendete Didier Reynders, EU-Kommissar für Justiz und Verbraucherschutz eine Videobotschaft. Er begrüßte die Veranstaltung und bedankte sich für die Empfehlungen zur Agenda aus Deutschland.
Kernstück und Highlight des Abends war die Vorstellung unseres Thesenpapiers „Unsere Grüne Vision einer EU-Verbraucheragenda von 2025- 2030“ . Darin heben wir die große Bedeutung europäischer Politik für den Alltag der Menschen hervor. Verbraucher*innen in Europa sind seit Jahren im Krisenmodus: Die Klima-Krise, geopolitische Zerwürfnisse und Kriege führen unter anderem zu hohen Lebenshaltungskosten und damit einer „Cost of living Crisis“. Hinzu kommt ein starker Vertrauensverlust in die Politik und staatliche Institutionen. Der Zugang zu Daseinsvorsorge wie bezahlbarer Wohnraum, Energie und Mobilität, die bisher als selbstverständlich erschienen, muss neu verhandelt und zurückerobert werden. Verbraucherpolitik bietet hier die Möglichkeit, den Binnenmarkt aus Bürgerperspektive zu denken. Die kommende EU-Verbraucheragenda ist das zentrale Element für die Verbraucherpolitik der Zukunft. Aus Sicht der beiden sind die Themen Twin Transition (gleichzeitiger Übergang zu einer nachhaltigeren und digitaleren Wirtschaftsweise) und besondere verletzliche Verbrauchergruppen wichtige Zukunftsthemen derer sich die Kommission annehmen sollte.
Vorstellung des ThesenpapierKulisse im Europäischen Haus
„Keep it simple for consumers“: Verbraucherpolitik muss den Alltag und das Leben der Menschen leichter machen. Verbraucherpolitik sollte daher eine Vereinfachungsoffensive starten. Dabei kann die Digitalisierung – bei allen Herausforderungen, die sie selbst für Verbraucher*innen mitbringt – ein Treiber sein. Umso wichtiger, ist dass die Werkseinstellung der „digitalen Konsumwelt“ fair by design & default – also eine Voreinstellung ist. Die Herausforderungen für die Jahre 2025 bis 2030 liegen darin, die grüne und digitale Transformation des Verbraucheralltags weiter voranzubringen. Damit alle Verbraucher*innen bei nachhaltigen Konsummustern mitgenommen werden, müssen wir einerseits faire Rahmenbedingungen schon bei der Produktion schaffen und andererseits auch eine soziale Abfederung gewährleisten. Soziale Gerechtigkeit muss horizontal mitgedacht und als Querschnittsaufgabe verankert werden.
Zu den Empfehlungen an die EU-Kommission gehört das Verbraucherleitbild des EU-Wettbewerbsrecht zu überarbeiten, da es ist nicht mehr zeitgemäß für die digitale Welt und für besondere vulnerable Verbrauchergruppen ist. Zudem solle das Informationsparadigma überdacht werden, da mehr Informationspflichten nicht zu mehr Informiertheit führen.
In drei Powertalks mit Gästen, wurde die EU-Verbraucheragenda der Zukunft diskutiert. Tabea Rößners diskutierte mit Jan-Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und als ehemaliger Grüner Europaabgeordneter seinerzeit Berichterstatter für die Datenschutzgrundverordnung und Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur und somit zuständig für den behördlichen Verbraucherschutz das Thema Twin Transition. Albrecht betonte die Bedeutung der Verbraucherrechtsdurchsetzung. In vielen Fällen sei das bestehende Verbraucherrecht, wie die Datenschutzgrundverordnung noch nicht ausgeschöpft worden. Müller hingegen skizzierte seine Vision der Durchsetzung der anstehenden Digitalgesetze wie dem Digital Services Act in Deutschland.
Um nachhaltigen Konsum zu fördern, sollten auch Plattformen ordnungspolitische Regeln auferlegt werden. Das bewährte Instrument des Ökodesign (ESPR) sollte auf weitere Produktgruppen ausgeweitet und parallel dazu auf die Vertriebswege anwendbar gemacht werden. Über delegierte Rechtsakte der ESPR sollte geprüft werden, inwiefern auch Onlinemarktplätze in die Pflicht genommen werden können, im Nutzerdesign ein Angebot nachhaltiger Produkte für Verbraucher*innen über z.B. Filter sichtbar machen zu müssen.
Ich habe mich in meinem Powertalk den besonders verletzlichen Verbraucher*innen. Damit sind Bezieher von Sozialleistungen, Angehörige bildungsferner Schichten, ältere Menschen, Kinder und Jugendliche oder Menschen mit Sprachbarrieren wie Zugewanderte gemeint, die vor besonders großen Herausforderungen im Verbraucheralltag stehen und große Benachteiligungen erfahren. Unterschiedliche soziodemographische Merkmale, Verhaltensmerkmale, Lebensverhältnisse, kulturelle Hintergründe und Fähigkeiten führen dazu, dass sie häufig im Abseits der Verbraucherpolitik- und des Alltags stehen. Daher sind sie gefährdeter, negative Folgen bestimmter (insbesondere auch digitaler) Marktpraktiken zu erfahren und sind besonders auf staatlichen Verbraucherschutz angewiesen. Der Schutz verletzlicher Verbraucher*innen sollte laut Heitmann in europäischen Verbraucherrecht verankert werden, damit die Mitgliedsstaaten daraus einen Handlungsauftrag ableiten. Eine EU-Strategie für besondere verletzliche Verbrauchergruppen sollte Jugendliche, Ältere und Menschen mit Sprachbarrieren in den Mittelpunkt stellen. In der Praxis haben sich zum Beispiel Projekte des aufsuchenden Verbraucherschutzes in Quartieren bewährt, wo die Hilfe direkt zu den Menschen kommt. Von diesen berichtete auch Doreen Denstädt, Thüringer Ministerin für Migration, Justiz und Verbraucherschutz. Sie zeigte auch, wie durch mehrsprachige Verbraucherbroschüren Zielgruppen wie Migranten angesprochen werden können. Ramona Pop Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) teilte die Einschätzung Linda Heitmanns zur besonderen Schutzbedürftigkeit von verletzlichen Verbrauchergruppen. Zudem würden davon auch die durchschnittlichen Verbraucher*innen erfasst werden.
Impressionen aus dem PowertalkDas Podium
Im dritten Powertalk diskutierte Stefan Schmidt, in der Fraktion zuständig für finanziellen Verbraucherschutz mit Dorothea Mohn, Teamleiterin Finanzmarkt beim vzbv über die Finanzthemen der Zukunft. Von der Bedeutung der Kleinanlegerstrategie, die ein Provisionsverbot enthalten müsse, über den Erhalt des Bargelds bei verbraucherfreundlicher Ausgestaltung des digitalen Euros und der Wichtigkeit einfacher und passgenauer Finanzprodukte.
Zum Schluss schaltete sich noch Anna Cavazzini, Mitglied des europäischen Parlaments und Vorsitzende des Binnenmarkt Ausschuss aus Straßburg hinzu und kommentierte den Abend aus dem Epizentrum des europäischen Parlaments. Gute Verbraucherpolitik nehme auch (Rechts)Populisten die Argumente und stärke das Verbraucher*innenvertrauen in die Institutionen, wenn der Alltag der Verbraucher*innen sicherer und einfacher und ihre Rechte schneller durchgesetzt werden.
Die Grüne Bundestagsfraktion wird den Prozess rund um die kommende EU-Verbraucheragenda 2025-2030 eng begleiten. Eine starke Grüne EP-Fraktion mit vielen Grüne Europaabgeordnete kann deren ambitionierte Umsetzung befördern.